Dissertation
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Dissertation
Paola De Martin
Prof. Dr. Philip Ursprung
2014-
 


Meine Forschung entspringt zwei gegensätzlichen Erfahrungen, die ich in den 90er Jahren
gemacht hatte. Als ehemaliges Arbeiterkind fühlte ich mich damals zu der Zürcher
Designszene auf eine ganz natürliche Art stark hingezogen, und in den Nullerjahren aus
dieser auf eine ganz natürliche Art wieder stark herausgedrängt. Dazwischen standen Jahre
des Widerstreits zwischen den beiden «Naturen». Darüber konnte ich mit niemandem
reden, ich stiess auf innere und äussere Widerstände, bei mir selbst, im Milieu meiner
sozialen Herkunft und in der Szene. Ich hatte nicht den Eindruck, dass der Ursprung dieser
intellektuellen Blockade ein persönlicher war, weder bei mir noch den anderen. Ich hatte
vielmehr den Eindruck, dass es machtvolle, unverstandene, vielleicht sogar tabuisierte
Strukturen und Prozesse gibt, die die Beziehung zwischen meinem früheren Selbst aus dem
Arbeitermilieu und meinem neuen Selbst im Designfeld prägen. Strukturen und Prozesse, die
– gerade dann und genau da – aus mir nicht ersichtlichen Gründen diesen Effekt des
Silencings zeitigen. Damit hatte ich gerungen wie mit unsichtbaren Geistern.
Ich will verstehen, was nicht gesagt werden konnte. Als Historikerin der Allgemeinen
Geschichte, sowie der Kunstgeschichte und der Sozial&Wirtschaftsgeschichte mit einer
Neigung hin zur Soziologie, bringe ich das zur Sprache und rücke das ins Bild, was noch nicht
existiert. Mich selbst sehe ich als Designhistorikerin, ohne den Schutz einer akademischen
Disziplin, die offiziell diesen Namen trägt. Diese Position gibt mir die Freiheit, an der Grenze
der Disziplinen den historisch interessierten Blick auf das Zentrum der kulturellen Macht zu
richten. Mich interessiert es, von dieser Grenze aus blickend, das Sagbare und das
Unsagbare, genauer noch, da wir es mit Ästhetik zu tun haben, das Darstellbare und das
Nicht-Darstellbare zu erforschen.
Ich will zuhören – und gehört werden. Mit Interviewpartner*innen, die dieselben Merkmale
wie ich haben (Arbeiterkinder, die Gestalter*innen wurden), spreche ich über ihre
Erfahrungen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zum Designfeld, etwas, worüber
man auf ganz natürliche Art nicht spricht und das von der Geschichtswissenschaft nicht
repräsentiert wird – und frage: Wie brechen wir das Schweigen, worüber reden wir, wenn
wir es tun? Wie lässt sich mit unserem biografischen Text- und Bildmaterial eine kollektive
Biografie schreiben? Wie lässt sich ein allgemeiner Sinn, der über das Individuelle und
Zufällige der Zeit hinausgeht, in der wir leben, auf der Basis dieser Quellen stiften? Welche
Hinweise liefern schliesslich diese Gespräche im Aufbruch darüber, wo man mit der
Recherche in den Schweizer Designarchiven beginnen könnte, um die Geschichte der
ungleichen Beziehung zwischen Arbeitermilieu und Designszene zu erforschen, oder
vielmehr noch: die allgemeine Geschichte einer Ästhetik der sozialen Ungleichheit?